PTA 16 besucht Stolperstein
Am 9. November 2017 ist etwas anders als sonst. Die Schüler der PTA16 schlagen mit Bedacht nicht den Weg zur Schule ein, sondern begeben sich an einen ihnen unbekannten Ort im Nordwesten der Stadt Jena. Auf der B7 pulsiert der Berufsverkehr, die Blicke der Menschen wirken oft müde, vielleicht gehetzt. Aus den verschiedenen Buslinien steigen sie aus. Ihr Ziel ist die Schaefferstraße Nr. 14 und hier kommen sie zusammen.
Als ihre Lehrerin hatte ich es ihnen im Vorfeld geschildert, dass die SBBS für Gesundheit & Soziales eine Patenschaft für einen Stolperstein innehat. Ich erzählte, dass Frau Dr. Kirsche sich zusammen mit Schülern seit 2010 in jedem Jahr am 9. November, dem so folgenschweren Datum der „Reichspogromnacht“ vor nunmehr 79 Jahren zu diesem Stolperstein begeben hat, um Frau Dr. Lisa Eppensteins zu gedenken. Und dass wir es in diesem Jahr seien, die sich auf den Weg machten.
Ich ging die ruhige Wohnstraße entlang, die durch viel Grün von der Hauptstraße abgegrenzt ist. Meine Klasse stand schon fast vollständig vor dem Haus um den Stolperstein herum. Das Wohnhaus ist ein Neubau, dennoch wird mit einer Gedenktafel des Ehepaares Wandersleben gedacht, das als Schwester und Schwager Dr. Lisa Eppenstein Zuflucht gegeben hatte, in einer Zeit, in der es für Menschen jüdischer Herkunft oder Religion kaum ein Entrinnen vor Verfolgung, Verschleppung und Tod gab.
Dr. Lisa Eppenstein war Studienrätin, durfte aber nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ihren Beruf an staatlichen Einrichtungen nicht mehr ausüben. In Berlin schenkte sie an einer privaten Einrichtung christlichen Kindern jüdischer Herkunft Bildung, Kinder, denen der Zugang zu „normalen“ Schulen verwehrt worden war. Ihr Engagement, ihr offenes Bekennen zur Menschlichkeit, zur Nächstenliebe und ihre Herkunft wurden ihr zum Verhängnis. Nach ihrer Flucht aus Berlin nach Jena wurde sie im Jahre 1942 als Jüdin in das Konzentrationslager Belzyce deportiert und dort ermordet.
Ihr zum Gedenken wurde vor dem Wohnhaus der Familie in der Schaefferstraße 14 eine kleine Messingplatte in den Gehweg eingelassen. Unscheinbar. Wird ein solcher Stolperstein wahrgenommen? Stolpert man darüber? Ja, wenn man nicht mit ihm rechnet, wenn man unachtsam ist. Er ist einer von 40 Stolpersteinen in Jena, und einer von über 56000 in Europa.
Noch bevor wir mit unserem eigentlichen Vorhaben begonnen hatten, begegneten wir Menschen mit offenen Augen und offenen Herzen, ahnend, wissend, dass wir nicht zufällig hier waren. Ein Mann bewunderte im Vorbeigehen den schönen Strauß Rosen und war überhaupt nicht überrascht, nickte anerkennend, als er den Zweck erfuhr. Ein anderer Mann kam aus dem Wohnhaus, auf dem Weg, seinen Sohnemann zum Kindergarten zu bringen. „Wir wohnen erst seit zwei Monaten hier, aber das hier empfinde ich als eine wunderschöne Geste.“, sprach er und versprach, die Rosen zu gegebener Zeit wieder zu entfernen, wenn sie unansehnlich geworden sein würden. Nacheinander fuhren zwei Damen in ihren Autos zur Arbeit, hielten aber kurz an und drückten ihre Freude darüber aus, dass nicht nur die Nachbarschaft alljährlich am Abend zu einer Feier zusammenkommt, sondern auch junge Menschen aus einem anderen Teil der Stadt sich hier einfinden, um Dr. Lisa Eppensteins zu gedenken.
Der Stein wurde blankgeputzt und poliert. Gemeinsam baten wir Frau Eppenstein und alle anderen Verfolgten und Ermordeten um Verzeihung für diesen schwarzen Teil unserer Geschichte. Ich bat die Schüler, eine Entscheidung zu treffen, eine Entscheidung für das Gedenken, für das Erinnern, für Achtsamkeit, für Würde und für die Liebe.
Während im Hintergrund die Geige des Itzhak Perlman zu hören war, legten wir zwei Ostseesteine und jeder eine Rose am Stein nieder.
Es wurden Herzen berührt.
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- Zuletzt aktualisiert: 18. November 2017
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